Müssen Auswanderer ab 2026 wirklich Welteinkommen in Deutschland weiter versteuern???
Hast du in letzter Zeit auch das Video gesehen, das behauptet, Deutschland wolle ab 2026 die Definition des Lebensmittelpunktes neu festlegen – mit der Folge, dass selbst ein Netflix-Abo dazu führen könnte, dass du weltweit in Deutschland steuerpflichtig bleibst? Klingt dramatisch, sorgt für Klicks – und ist so pauschal schlicht falsch. In diesem Beitrag räume ich mit den Gerüchten auf, zeige dir, was tatsächlich in Bewegung ist, und erkläre, wen das betrifft – und wen nicht.
Kurz gesagt: Es gibt keine allgemeine Neuregelung, die Auswanderern ab 2026 pauschal eine weltweite Steuerpflicht in Deutschland aufbürdet. Was es gibt: ein BMF-Schreiben aus 2023, das sich auf die Besteuerung von Arbeitslohn in Entsendungsfällen bezieht – und dabei den „Mittelpunkt der Lebensinteressen“ für DBA-Zwecke genauer (und strenger) fasst.
Wichtig: Der „Lebensmittelpunkt“ ist kein Kriterium für die unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland. Dafür zählen nur Wohnsitz und gewöhnlicher Aufenthalt. Der Lebensmittelpunkt spielt vor allem in Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) eine Rolle, wenn zwei Staaten gleichzeitig eine Ansässigkeit reklamieren.
Weiter wichtig: Die diskutierten Änderungen betreffen vor allem Angestellte, die ins Ausland entsandt werden und (teils) enge Verbindungen zu Deutschland behalten. Wer tatsächlich auswandert, seinen Wohnsitz in Deutschland aufgibt und nicht als Arbeitnehmer entsandt ist, ist von diesem Punkt in der Regel nicht betroffen.
Was kursiert im Netz – und warum das verunsichert
• Behauptung: Ab 2026 werde der Lebensmittelpunkt neu definiert. Schon ein Bankkonto, eine leere Wohnung oder ein Streaming-Abo genüge, um dich weltweit steuerpflichtig zu machen.
• Realität: Es gibt keine allgemeine Gesetzesänderung dieser Art. Die Diskussion dreht sich um ein BMF-Schreiben zur steuerlichen Behandlung von Arbeitslohn nach DBA. Einige Finanzämter haben schon früher umfangreiche Kriterien abgefragt – das ist nicht neu, aber nun deutlicher formuliert.
• Problem: KI-gestützte Videos ohne Quellenangaben vermischen Begriffe (Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt, Lebensmittelpunkt) und blasen Spezialfälle zu allgemeinen Schreckensszenarien auf.
Was wirklich zählt: Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt – und dann erst der Lebensmittelpunkt
• Unbeschränkte Steuerpflicht in Deutschland entsteht durch Wohnsitz (eine Wohnung, die du innehast und nutzen kannst) oder gewöhnlichen Aufenthalt (mehr als sechs Monate Aufenthalt im Inland, mit Ausnahmen). Der „Lebensmittelpunkt“ ist dafür irrelevant.
• Der Lebensmittelpunkt – oft als „Mittelpunkt der Lebensinteressen“ bezeichnet – ist ein tie-breaker im DBA. Er entscheidet, in welchem Staat du nach Abkommensrecht ansässig bist, wenn du in beiden Staaten einen Wohnsitz hast.
• Genau hier setzt das BMF-Schreiben 2023 an: Es betrifft in erster Linie Entsendungen (du arbeitest vorübergehend im Ausland, behältst vielleicht eine Wohnung in Deutschland etc.) und will festlegen, wann Deutschland trotz Auslandsaufenthalts noch ein Besteuerungsrecht an bestimmten Lohnbestandteilen beanspruchen kann.
Worauf sich das BMF 2023 fokussiert
Das Schreiben zur steuerlichen Behandlung von Arbeitslohn nach DBA schärft die Kriterien, mit denen der Mittelpunkt der Lebensinteressen beurteilt wird. Neben den klassischen Faktoren (Familie, Wohnsituation, gesellschaftliche Bindungen) werden teils weitere Indizien genannt, die Finanzämter ohnehin schon abgefragt haben, etwa:
• Familiäre und gesellschaftliche Beziehungen (wo leben Partner und Kinder?)
• Politische, kulturelle und sonstige Verwurzelung
• Ausstattung und Größe der Wohnung
• Privataktivitäten, Mitgliedschaften (Vereine, Parteien)
• Wiederkehrende Lieferungen/Leistungen, Abonnements, Arztbesuche (außer Notfälle)
Entscheidend: Das sind Indizien für die DBA-Ansässigkeit in Entsendungssituationen. Ein Netflix- oder Zeitschriftenabo allein macht dich nicht plötzlich in Deutschland weltweit steuerpflichtig. Es geht um das Gesamtbild, und zwar speziell bei der Frage, welchem Staat das Besteuerungsrecht an bestimmten Lohnbestandteilen zusteht.
Warum das heikel werden kann – Beispiel Entsendung
Stell dir vor, du wirst für drei Jahre nach Frankreich entsandt. Deine Familie zieht mit, du arbeitest vor Ort, dein laufendes Gehalt wird in Frankreich besteuert. Soweit klar. Nun erhältst du aber nach deiner Rückkehr nach Deutschland einen Bonus oder eine Abfindung für die Zeit im Ausland. Frankreich sagt: Dieser Bonus betrifft deine Tätigkeit in Frankreich – also steuerpflichtig in Frankreich. Deutschland könnte nach dem BMF-Verständnis argumentieren: Deine gewichtigen Lebensinteressen lagen trotz Auslandsaufenthalt weiter in Deutschland (z. B. wegen enger Bindungen, beibehaltenem Wohnsitz, Sprache zu Hause, Rückkehrabsicht) – also ist der Bonus auch in Deutschland zu besteuern. Es droht echte Doppelbesteuerung, wenn der DBA-Ausgleich nicht sauber greift.
Das ist der Kern der Debatte: nicht dass Auswanderer plötzlich wegen eines Streaming-Abos steuerlich „gefangen“ werden, sondern dass in Entsendungsfällen einzelne Lohnbestandteile zwischen zwei Staaten strittig sein können.
Was bedeutet das für „echte“ Auswanderer?
Wenn du wirklich aus Deutschland ausziehst, deinen Wohnsitz abmeldest, keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr in Deutschland hast und nicht als Arbeitnehmer entsandt bist, trifft dich diese Diskussion in aller Regel nicht. Du solltest dennoch sauber dokumentieren, dass du deinen Lebensmittelpunkt – soweit er für Abkommensrecht überhaupt relevant wird – in deinem neuen Wohnsitzstaat hast. Für Unternehmer, Selbständige, Freiberufler, Privatiers gilt: Die BMF-Verschärfungen betreffen primär Arbeitslohn in Entsendungsszenarien.
Typische Missverständnisse – schnell geklärt
• „Doppelbesteuerungsabkommen sorgen dafür, dass ich doppelt besteuert werde.“ Falsch. Sie sollen Doppelbesteuerung verhindern, indem sie Zuteilungsregeln enthalten (z. B. wo Arbeitslohn, Dividenden, Renten besteuert werden).
• „Lebensmittelpunkt = unbeschränkte Steuerpflicht.“ Falsch. Für die unbeschränkte Steuerpflicht zählen Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt. Der Lebensmittelpunkt dient im DBA eher als Tie-Breaker zwischen zwei Wohnsitzen.
• „Abos lösen Steuerpflicht in Deutschland aus.“ So pauschal nein. Abos können ein Indiz unter vielen sein, aber keine alleinige Grundlage für eine weltweite Steuerpflicht.
Was Arbeitgeber und Arbeitnehmer bei Entsendungen beachten sollten
Ein brisanter Punkt des BMF-Schreibens: Arbeitgeber sollen teils prüfen, ob der Arbeitnehmer seinen Mittelpunkt der Lebensinteressen in Deutschland beibehält. Das wirft Fragen zum Datenschutz und zur Praktikabilität auf. Gleichzeitig steigt das Risiko, dass Lohnbestandteile wie Bonus, Abfindung, Sign-on oder Aktienoptionen im falschen Staat besteuert werden – oder in beiden.
Handlungsempfehlungen für Entsendungen
• Vorab-Analyse: Lass vor Beginn der Entsendung prüfen, wie die DBA-Zuteilung für laufenden Lohn und für Sonderzahlungen aussieht.
• Wohnsitz klar regeln: Überlege, ob ein deutscher Wohnsitz beibehalten werden soll – und welche Indizien dadurch gesetzt werden. In manchen Fällen kann die Aufgabe des Wohnsitzes sinnvoll sein.
• Familien- und Lebensumstände dokumentieren: Wo wohnen Partner und Kinder? Wo ist das soziale Zentrum? Dokumentiere Fakten, nicht nur Absichten.
• Timing von Zahlungen steuern: Prüfe, ob Bonus/Abfindung nach DBA günstiger in der Entsendungsphase oder nach der Rückkehr zufließen.
• Arbeitgeberkoordination: HR/Payroll und Steuerratung an einen Tisch. Prozesse definieren, Informationspflichten klären, Risiken minimieren.
• Nachweise sammeln: Mietverträge, Schulbesuche der Kinder, Vereinsmitgliedschaften, Steuerbescheide, Versicherungen – alles, was die DBA-Ansässigkeit stützt.
Praxisbeispiel – warum Timing und Indizien zählen
Angenommen, du erhältst eine Abfindung, nachdem du schon wieder in Deutschland bist. Nach deutschem Recht zählt der Zeitpunkt des Zuflusses. Frankreich könnte aber sagen: Die Abfindung betrifft Tätigkeiten in Frankreich – also dort steuerpflichtig. Wenn Deutschland parallel Ansässigkeit und/oder Lebensmittelpunkt (aus Sicht des DBA) in Deutschland annimmt, kann es den gleichen Betrag besteuern. Ein sauber abgestimmtes Timing und eine klare Ansässigkeitsdokumentation reduzieren dieses Risiko.
Was du als Auswanderer jetzt konkret tun solltest
Auch wenn du nicht entsandt bist, lohnt eine solide Basis. So bleibst du auf der sicheren Seite:
• Wohnsitzaufgabe in Deutschland sauber dokumentieren (Abmeldung, Miet-/Kaufverträge, Übergabeprotokolle).
• Aufenthaltszeiten im Blick behalten (Sechs-Monats-Regel für gewöhnlichen Aufenthalt).
• Bankverbindungen, Abos, Versicherungen prüfen: Was brauchst du wirklich noch in Deutschland? Kündigen oder umstellen, wenn sie nur aus Bequemlichkeit weiterlaufen.
• Steuerliche Registrierung im neuen Wohnsitzstaat, schnelle Klärung der lokalen Pflichten.
• Doppelbesteuerungsabkommen deines Zielstaats kennen: Wo werden Kapitaleinkünfte, Unternehmensgewinne, Renten besteuert?
• Professionelle Beratung einholen, insbesondere bei Wegzugssteuer, erweiterter beschränkter Steuerpflicht, Entstrickung oder Unternehmensbeteiligungen.
Ein Wort zu Gerichtsurteilen und OECD-Standard
In der Fachwelt wird kritisiert, dass Teile des BMF-Verständnisses über den OECD-Standard hinausgehen könnten. Gerichte haben in Einzelfällen (z. B. BFH-Entscheidungen zu Vorständen mit internationaler Tätigkeit) Ergebnisse bestätigt, die zu Doppelbelastungen führten, wenn zwei Staaten gleichzeitig ein Besteuerungsrecht beanspruchten. Das zeigt: Im Graubereich zwischen Praxis und Abkommensauslegung wird es nie ganz friktionsfrei sein. Umso wichtiger ist eine klare, belegbare Struktur – und wo möglich eine Abstimmung zwischen den Staaten (z. B. im Verständigungsverfahren).
Die gute Nachricht – und der Kern der Botschaft
• Es gibt derzeit keine allgemeine gesetzliche Neudefinition des Lebensmittelpunkts ab 2026, die Auswanderer pauschal in Deutschland steuerpflichtig hält.
• Die Diskussion betrifft primär Arbeitslohn in Entsendungskonstellationen und die abkommensrechtliche Ansässigkeit.
• Wer wirklich auswandert und seinen Wohnsitz in Deutschland aufgibt, ist in der Regel nicht betroffen – sollte aber seine Unterlagen und Lebensumstände sauber dokumentieren.
Checkliste: Bist du wirklich „raus“ aus Deutschland?
• Kein Wohnsitz mehr in Deutschland (keine verfügbare Wohnung).
• Kein gewöhnlicher Aufenthalt (insb. nicht mehr als sechs Monate im Jahr in Deutschland).
• Lebensmittelpunkt im neuen Wohnsitzstaat belegbar (Familie, soziales Umfeld, Verträge, Mitgliedschaften).
• Relevante Abos, Konten, Versicherungen angepasst oder beendet.
• Steuerliche Registrierung und Krankenversicherung im neuen Staat gesichert.
Fazit: Ruhe bewahren, sauber planen, klug dokumentieren
Lass dich von reißerischen KI-Videos nicht verrückt machen. Für die meisten Auswanderer ändert sich ab 2026 nichts Grundlegendes. Wenn du entsandt wirst oder komplexe Lohnbestandteile (Bonus, Abfindung, Aktienoptionen) im Spiel sind, ist eine frühzeitige, fundierte Gestaltung Gold wert: kläre Wohnsitzfragen, stimme Zahlungszeitpunkte ab, dokumentiere deinen Lebensmittelpunkt abkommensfest und binde Arbeitgeber sowie Steuerprofis ein.
Dein Takeaway: Keine Panik – aber Sorgfalt. Wenn du planst auszuwandern oder eine Entsendung bevorsteht, hol dir rechtzeitig fachkundige Unterstützung und bring Struktur in deine steuerliche Situation. So veränderst du den Kurs aktiv – und lässt dich nicht von Gerüchten treiben.